"Hamburger Bündnis für Musikunterricht"
Aufruf vom 14.September 2002
"...darum versäume ich in diesem Zusammenhang nie, warnend auf den in den letzten Jahrzehnten stetig darbenderen Musikunterricht an unseren Schulen hinzuweisen. Wenn wir einschlafen lassen, was da an Potential vorhanden ist, dann sägen wir an dem Kreativitätsast, auf dem wir alle miteinander sitzen." Altbundespräsident
Prof. Dr. Roman Herzog |
1. Unsere Forderungen
- Keine Kürzungen des Musikunterrichts im achtstufigen Gymnasium.
- Die von den Stundentafeln vorgesehenen Musikstunden werden erteilt.
- Schulmusikerinnen und Schulmusiker werden bevorzugt eingestellt, besonders
in den Grundschulen.
- Alle Absolventinnen und Absolventen des Studienseminars mit dem Unterrichtsfach
Musik werden eingestellt.
- Die musikalische Frühförderung (Eltern-Kind-Kurse, Frühinstrumentaler
Unterricht, Musik in den Kindertagesstätten etc.) wird erheblich ausgeweitet.
- Musik wird ein Hauptfach in der ErzieherInnenausbildung.
- In den Kindertagesstätten, Vorschulklassen und Grundschulen wird grundsätzlich
täglich gesungen, getanzt und auf Instrumenten gespielt.
- Die in den Schulen vorhandenen Musikfachkräfte erteilen so weit wie möglich
Musikunterricht.
- Notwendig sind Fort- und Weiterbildungen mit den Inhalten Musikpraxis, Popularmusik,
Vielfalt der Kulturen und Musikvermittlung.
- Den Schulen werden ausreichende Personalmittel für die wichtigen Neigungskurse
zur Verfügung gestellt.
- Lehrkräfte anderer Fächer, die bereit sind, auch Musikunterricht
zu erteilen, sind durch spezielle Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen zu
unterstützen. Dies gilt - wegen des Klassenlehrerprinzips - ganz besonders
für die Grundschule.
- Seiteneinsteiger in den Musiklehrerberuf (Diplommusikerzieher, Kirchenmusiker
etc.) erhalten eine angemessene pädagogische Weiterbildung.
- Um mehr junge Menschen zu motivieren, Schulmusik zu studieren, werden Rahmenbedingungen
für entsprechende Projekte geschaffen.
- Studierenden der Grundschulpädagogik, die den Lernbereich Musik wählen,
wird neben der pädagogischen auch eine musikpraktische Ausbildung angeboten.
- Alle Bemühungen an der Hochschule für Musik und Theater, die Studierenden
besser auf die Anforderungen der Schulwirklichkeit vorzubereiten und sie zugleich
in die Lage zu versetzen, ihre zukünftigen Schülerinnen und Schüler
ausreichend zu fordern und zu fördern, werden unterstützt.
- Die Privatmusikerzieher und privaten Musikschulen sollen hinsichtlich der
Zahlung der Umsatzsteuer den kommunalen Einrichtungen gleichgestellt werden.
- Ein zentrales Merkmal der Ganztagsschulen sollen Kooperationen mit außerschulischen
kulturellen Lernorten sein.
- Der Staatsoper, den staatlich geförderten Orchestern (Philharmonie, Hamburger
Symphoniker etc.), dem Theater für Kinder, den NDR-Klangkörpern (Chor,
Sinfonieorchester, Big-Band), der Fabrik, der Markthalle, den Szeneclubs werden
zusätzliche Personal- und Sachmittel für die Nachwuchsarbeit, für
Kooperationen mit den Schulen und für mehr Schülerkartenkontingente
zur Verfügung gestellt.
- Der Etat "Sonstige Musikpflege" der Kulturbehörde, mit dem
auch die außerschulischen Musikbe-gegnungen der Kinder und Jugendlichen
in Chören, Orchestern und Bands, in Musikvereinen, Kinderkonzerten und
die Begegnungen mit Komponisten gefördert werden, wird mit Blick auf an-dere
Metropolen entsprechend erhöht.
Wir fordern mehr Musikunterricht in den Schulen, fordern mehr musikalische
Bildung und Ausbildung in und außerhalb der Schule.
Wir bieten dem Senat unsere fachliche Beratung bei der Realisierung der genannten
Forderungen an, werden alle Entwicklungen in dieser Richtung im Rahmen unserer
Zuständigkeiten und Möglichkeiten engagiert unterstützen und
durch eigene Maßnahmen zusätzlich erweitern.
2. Zur aktuellen Situation des Musikunterrichts in Hamburg
Die Situation des Musikunterrichts in den Hamburger Schulen macht uns große
Sorgen. Durch die aktuelle Hamburger Schul- und Bildungspolitik und durch die
aktuelle Bildungsdiskussion droht der Musikunterricht zu einer verzichtbaren
Nebensache zu werden.
Die Situation im einzelnen:
Die Hamburger Bildungsbehörde plant im Zusammenhang der Schulzeitverkürzung
an Gymnasien die Abschaffung des Pflichtunterrichts in Musik (und Kunst) auf
der Klassenstufe 8. Dies wäre eine Kürzung des obligatorischen Musikunterrichts
an Gymnasien um 25 %. Hamburger Gymnasien lägen dann - was die Stundentafeln
für den Bereich obligatorischer ästhetischer Bildung vorsehen - im
Bundesvergleich an letzter Stelle.
Nach Schätzungen des Verbands deutscher Schulmusiker, VDS, erhalten bereits
jetzt 80 % der Schülerinnen und Schüler an den Hamburger Gymnasien
ab der Klassenstufe 9 keinen Musikunterricht mehr. Diesem geringen Musikangebot
entspricht, dass auf den Oberstufen der Gymnasien dann nur noch ca. 12% der
Schüler Musik wählen.
Nur insgesamt 237 Oberstufenschüler belegten im Schuljahr 2000/2001 an
den Hamburger staatlichen Schulen den Leistungskurs Musik.
Die Zahl der schriftlichen Abiturprüfungen in Musik (3.Fach) nahmen rapide
ab. 1999 beteiligten sich noch 49 Schüler an der schriftlichen Prüfung,
2001 waren es nur noch 24.
Musik als mündliches Abiturprüfungsfach im Grundkurs belegten 1999
noch 72 Schüler, 2000 waren es 43, 2001 nur noch 31.
Durch veränderte Stundentafeln und Belegverpflichtungen wählen immer
weniger Schüler Musik.
In den Haupt-, Real- und Gesamtschulen ist Musik bereits ab Klasse 7 kein Pflichtfach
mehr und kann abgewählt werden.
In den Hamburger Grundschulen wird Musik aufgrund des Fachlehrermangels zum
weitaus überwie-genden Teil fachfremd unterrichtet oder fällt ganz
aus. Schätzungen zufolge fehlen hier 80% der be-nötigten Musiklehrer
und Musiklehrerinnen.
Der verlängerte tägliche Aufenthalt in den Gymnasien, der sich aus
der Schulzeitverkürzung ergeben wird und der in der Regel wohl ohne Mittagspause
und ohne Mahlzeit stattfinden soll, wird bewirken, dass noch weniger Schüler
als bisher zu den Musikneigungskursen (Schulchor, Orchester, Bands etc.) am
Nachmittag in die Schule zurückkehren.
Wir sehen auch den außerschulischen Musikunterricht (Musikschule, Privatmusikerzieher)
beeinträchtigt, wenn die Schüler demnächst noch später aus
der Vormittagsschule kommen. Es wird sicher weniger Schüler als bisher
geben, die nach dem nun längeren Schultag noch bereit sind, zum nachmittäglichen
Instrumental-, Gesangs - oder Tanzunterricht zu gehen.
3. PISA und die Bildungsdiskussion
Die Veröffentlichung der PISA-Studie hat die bildungspolitische Diskussion
in Deutschland neu entfacht. Aber die als alarmierend empfundenen Ergebnisse
der Studie haben bisher leider nicht zu einer grundlegenden Bildungsdebatte
sondern zu einer Verengung geführt, in der nur noch über "Hauptfä-cher",
vor allem über Deutsch, Mathematik und Englisch gesprochen wird.
Diese Reduktion von Bildung ist falsch. Wir brauchen eine Bildung, die den jungen
Menschen Anre-gungen gibt, sowohl ihre kognitiven, als auch ihre sozialen, emotionalen
und ästhetischen Kompetenzen zu entfalten. Bildung muss den ganzen Menschen
mit all seinen unterstützenswerten Kräften im Blick haben. Zu dieser
Bildung gehören auch die ästhetischen Fächer, gehört auch
unverzichtbar der Musikunterricht.
Wir mahnen außerdem eine Bildungsdiskussion an, die Bildung auf das ganze
Leben des Menschen bezieht; eine Bildungsdiskussion, die Bildung nicht alleine
unter dem Gesichtspunkt ihrer Zweckmäßigkeit und Verwertbarkeit für
den Arbeitsmarkt beurteilt, sondern Bildung als Lebensform begreift; eine Bildungsdiskussion,
die sich nicht nur auf Schule, Hochschule und Berufsausbildung konzentriert,
sondern die die notwendige Vielfalt der Bildungsorte und die Vielgestaltigkeit
von Bildungsprozessen anerkennt.
Bei PISA geht es nur um die Schule. Aber auch Familie, Kindergarten, Musikschule,
Privatmusikerzieher und andere außerschulische Lernorte vermitteln Bildung.
Das Zusammenwirken all dieser Lernorte ist für eine umfassende ganzheitliche
Bildung von Kindern und Jugendlichen unbedingt notwendig. Diese anderen, außerschulischen
Lernorte müssen erheblich stärker gesehen und gefördert werden
als bisher.
Wir begrüßen die Entwicklung zur Ganztagsschule. Ganztagsschulen
sind für uns allerdings nur denkbar, wenn Kooperationen mit außerschulischen
kulturellen Lernorten ein prägender Bestandteil sind. Diese Kooperationen
von Schule und außerschulischen Lernorten sind eine große Chance
für beide Seiten und unterstützen die ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung
der Kinder und Jugendlichen.
Forschungsergebnisse belegen, dass die menschlichen Fähigkeiten von den
Lernerfahrungen abhän-gen, die der Mensch im Kleinkind- bzw. Säuglingsalter
macht. Deshalb sind alle Ansätze einer musikalischen Frühförderung
im Kleinst- und Kleinkindalter von besonderer Bedeutung.
Aber unter den Unterzeichnern besteht Einverständnis: Der Musikunterricht
der allgemein bildenden Schulen ist der erste Lernort in Musik. Nur hier erreichen
wir alle Kinder und Jugendlichen. Deshalb gilt diesem Musikunterricht unsere
erste Aufmerksamkeit.
4. Die Bedeutung des Musikunterrichts.
Die je eigenen Sichtweisen von Welt, wie sie die Künste anbieten, sind
eine unverzichtbare Ergän-zung zur wissenschaftlichen Rationalität.
Eine Schule, in der ästhetische Erziehung und Bildung nur am Rande stattfinden,
ist pädagogisch unvertretbar. Wir sind besorgt, dass die ästhetische
Bildung in der Schule zunehmend vernachlässigt wird, bedauern zutiefst
den Rückgang des Musikunterrichts in den Schulen.
Völlig unverständlich ist die Verringerung des Musikunterrichts auch
vor dem Hintergrund aktueller empirischer Untersuchungen zu den positiven Auswirkungen
von Musikerziehung auf die Persönlich-keitsentwicklung und das Sozialverhalten.
Die viel beachtete Langzeitstudie von H.G. Bastian an Ber-liner Grundschulen
hat erst kürzlich nachgewiesen, dass musikalische Bildung die soziale Kompetenz,
die Entwicklung von Sensibilität und Empathie, die Intelligenz, die allgemeinen
schulischen Leistungen und die Konzentrationsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen
fördert.
Sie hat sogar nachgewiesen, dass ein verstärkter Musikunterricht die allgemeine
Lernmotivation und Lernleistung steigert. Musikunterricht hat einen persönlichkeitsbildenden
"Mehrwert".
Der Erhalt unserer Musikkultur ist keine Privatangelegenheit. Musikunterricht
ist wie alle Bildung vor allem eine öffentliche Aufgabe. Musikalische Bildung
darf nicht allein dem Markt und seinen Gesetzen überlassen werden, Musikmachen
darf nicht zum Privileg der wirtschaftlich Bessergestellten werden. Das heißt
auch, dass der öffentlich verantwortete Musikunterricht durch unterschiedlichste
private Angebote ergänzt, erweitert und intensiviert wird.
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