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FÖRDERUNG ZEITGENÖSSISCHER MUSIK UND LEBENDER KOMPONISTINNEN UND KOMPONISTEN


Die Empfehlung Förderung zeitgenössischer Musik und lebender Komponistinnen und Komponisten wurde vom Kulturausschuß der Kultusministerkonferenz erarbeitet und am 13. September 1996 von der Kultusministerkonferenz angenommen.

Situationsbeschreibung

Die Abkehr von traditionellen Gestaltungsprinzipien hat Musik und Komposition dieses Jahrhunderts in ein Dilemma geführt, das schwer auflösbar erscheint. Mit ihrer Hinwendung zu neuen Ausdrucksformen und Tonsprachen konnte die zeitgenössische Musik zwar neue, bislang ungeahnte Klangwelten und Erlebnisräume öffnen. Sie ist zugleich für die Hörerinnen und Hörer unverständlicher, schwerer erschließbar und damit unpopulärer geworden. Ein breiteres Publikum hat die zeitgenössische Musik bis heute nicht erreichen können. Im Gegenteil: es existiert eine tiefe Kluft zwischen der Neuen Musik und den Hörgewohnheiten der Menschen. Diese richten sich im wesentlichen auf die populäre Musik des 20. Jahrhunderts (Unterhaltungsmusik) und im Bereich der "Ernsten Musik" auf die klassische Musik vergangener Jahrhunderte.

An Anstrengungen, der Musik unserer Zeit Gehör zu verschaffen, fehlt es nicht. Von den Einrichtungen und Institutionen des Musiklebens, von Interpreten und Veranstaltern, Musikproduzenten und -verlagen und nicht zuletzt der Kulturpolitik gehen vielfältige Impulse zur Förderung der Neuen Musik aus. Dazu zählen die Aktivitäten des Deutschen Musikrates und weiterer Verbände, die Fördermaßnahmen privater Stiftungen sowie die Programme der Länder zur Förderung der Neuen Musik und zur Komponistenförderung. Nach wie vor eindrucksvoll sind auch die Bemühungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalter um die Verbreitung zeitgenössischer Musik, wenngleich sich hier in den letzten Jahren eine stärkere Ausrichtung der Programmangebote an die Erwartungen eines breiteren Publikums beobachten läßt. Es existiert heute eine vielfältige und lebendige Szene der Neuen Musik, mit eigenen Festivals und Ensembles. Mit dem übrigen Musikleben ist sie jedoch nur wenig verbunden.

In den Konzertsälen sind die Werke zeitgenössischen Schaffens weiterhin stark unterrepräsentiert. Um hohe Besucherzahlen zu erreichen, werden Konzertprogramme vorrangig mit den bekannten Werken vergangener Musikepochen, vornehmlich des 18. und 19. Jahrhunderts, bestritten. Das gilt auch für die meisten Musikfestivals. Zeitgenössische Kompositionen haben deshalb nur wenig Chancen, aufgeführt zu werden, vielfach verschwinden sie nach der Uraufführung in den Archiven.

Im Rahmen der Musikerziehung und -ausbildung wird die Chance, dem Publikum schon in jungen Jahren den Zugang zur Musik unserer Zeit zu vermitteln, noch zu wenig genutzt. Im Unterricht der allgemeinbildenden Schulen und der Musikschulen, in den Kinder- und Jugendorchestern bzw. -chören sowie im Rahmen der Vereinsarbeit auf regionaler, Landes- und Bundesebene hat die zeitgenössische Musik nur geringe Bedeutung. Zeitgenössische Musik spielt auch in der Vereinsarbeit im Erwachsenenbereich eine nur untergeordnete Rolle. Im Rahmen des Wettbewerbs "Jugend musiziert", des Herzstücks der außerschulischen Begabtenförderung, ist die Präsentation eines zeitgenössischen Werks obligatorisch. Die Wahl fällt hier jedoch meist auf "Klassiker" der Neuen Musik aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nur selten auf Werke lebender Komponisten.

An den Musikhochschulen findet die zeitgenössische Musik zwar Berücksichtigung, ein durchgehendes Unterrichtsprinzip für zukünftige Instrumentalisten und Sänger, Musikpädagogen und Musikwissenschaftler ist aber nicht erkennbar. Im wesentlichen werden nur die angehenden Komponisten und Komponistinnen mit den Kompositionstechniken des 20. Jahrhunderts und mit experimentellen Formen vertraut gemacht. An einzelnen Hochschulen stehen Studios für elektronische Musik zur Verfügung.

Empfehlungen zur Förderung zeitgenössischer Musik

Die zeitgenössische Musik bedarf in besonderem Maße der Vermittlung, des Brückenschlags zum Publikum. Auf diesem Gebiet besteht erheblicher Nachholbedarf. Die Kultusministerkonferenz wendet sich mit ihrer Empfehlung zur Förderung zeitgenössischer Musik und lebender Komponistinnen und Komponisten an alle im Musikleben tätigen Einrichtungen und Akteure. Nur durch gemeinsame Anstrengungen kann die Kluft zwischen der Musik unserer Zeit und dem Publikum überwunden werden.

Integration zeitgenössischer Musik in Konzertprogramme

Konzertveranstaltungen haben für die Vermittlung zeitgenössischer Musik einen besonderen Stellenwert. Durch ihre Integration in Konzertprogramme - und zwar als Uraufführungen und Wiederaufführungen - werden Chancen der Begegnung und Auseinandersetzung mit der Neuen Musik eröffnet und können neue Hörgewohnheiten entwickelt werden. In die herkömmlichen Konzertprogramme sollte zeitgenössische Musik stärker integriert werden. Mit öffentlichen Mitteln geförderte Orchester sollten aufgefordert werden, zeitgenössische Kompositionen in ihre Programme aufzunehmen.

Unterstützung eigenständiger Veranstaltungen und spezieller Ensembles der zeitgenössischen Musik

Für die Pflege und Weiterentwicklung der zeitgenössischen Musik sind eigenständige Veranstaltungen und spezielle Ensembles der zeitgenössischen Musik weiterhin von Bedeutung. Sie wirken als Experimentierfelder, Foren für den kompositorischen Nachwuchs und Orientierungshilfe für ein besonders interessiertes Publikum. Veranstaltungsprojekte, Festivals und Ensembles Neue Musik sollten von der öffentlichen Hand durch geeignete Maßnahmen unterstützt werden.

Weiterführung der Komponistenförderung der öffentlichen Hand

Kompositionsaufträge der öffentlichen Hand in Verbindung mit Interpreten sowie Zuschüsse an Interpreten für die Vergabe von Kompositionsaufträgen haben sich als wirkungsvolle Maßnahmen zur Förderung der zeitgenössischen Musik bewährt und sollten weitergeführt werden. Dies gilt gleichermaßen für Zuschüsse zur Herstellung von Druckwerken und Tonträgern.

Aktivitäten des Deutschen Musikrates, der Landesmusikräte und anderer Musikverbände

Die vielfältigen Aktivitäten des Deutschen Musikrats, der Landesmusikräte und anderer Musikverbände leisten einen wichtigen Beitrag für die Vermittlung und Durchsetzung der zeitgenössischen Musik. Zur Weiterführung empfohlen werden insbesondere die "Konzerte des Deutschen Musikrates", die Dokumentation von Aufführungen zeitgenössischer Musik auf Tonträgern, die "Edition Zeitgenössische Musik", das Manuskriptearchiv des Deutschen Tonkünstlerverbandes sowie Verzeichnisse von Werken des Musiktheaters und von sinfonischen Werken zeitgenössischer Komponisten.

Darüber hinaus wird eine weitere Verstärkung des Engagements der Verbände für die zeitgenössische Musik empfohlen. Besonders in Betracht kommen hierfür die Veranstaltung von Tonkünstlerfesten und Festen der Neuen Musik, die Vergabe von Kompositionsaufträgen sowie die Durchführung von Workshops und Gesprächen über zeitgenössische Musik.

Intensivierung des internationalen Austauschs

Der internationale kulturelle Austausch stärkt die Präsenz der deutschen zeitgenössischen Musik im Ausland. Zugleich trägt er dazu bei, die zeitgenössische Musik anderer europäischer Länder in Deutschland bekannt zu machen.

Der internationale Austausch im Bereich der zeitgenössischen Musik sollte künftig intensiviert werden. Hierfür bieten sich insbesondere folgende Maßnahmen an: die Förderung von Veranstaltungsprojekten und Workshops, die Weiterführung der Fördermaßnahmen des Goethe-Instituts, der Ausbau von Austauschprogrammen der Musikhochschulen und anderer Ausbildungsinstitute, die Intensivierung der Begabtenförderung sowie die Einbeziehung Neuer Musik bei internationalen Begegnungen und Tagungen.

Verstärkte Heranführung von Kindern und Jugendlichen an die zeitgenössische Musik

Junge Menschen zeigen eine besondere Offenheit und Empfänglichkeit für neue musikalische Formen. Deshalb muß bei den Kindern und Jugendlichen mit der Heranführung an die Neue Musik begonnen werden.

Im Rahmen des Musikunterrichts der allgemeinbildenden Schulen, in der Arbeit der Musikschulen sowie der Jugendchöre und Jugendorchester auf Regional-, Landes- und Bundesebene sollten die Möglichkeiten zur Heranführung von Kindern und Jugendlichen an die Neue Musik intensiver genutzt werden. Notwendig ist insbesondere eine verstärkte Einbeziehung der zeitgenössischen Musik in den Musikunterricht. Im Repertoire der Schul- und Jugendorchester bzw. der Schul- und Jugendchöre sollte der Anteil der Neuen Musik erhöht werden. Schulische Konzertveranstaltungen bieten sich zur Vermittlung zeitgenössischer Musik an.

In den jugendmusikalischen Wettbewerben ist der zeitgenössischen Musik ein fester Platz einzuräumen. So sollte die Neue Musik im Wettbewerb "Jugend musiziert" auf allen Ebenen einen Schwerpunkt bilden. Es wird zudem empfohlen, Preise "Für die beste Interpretation zeitgenössischer Musik" nicht allein beim Bundeswettbewerb "Jugend musiziert" (als Sonderpreis der Stadt Erlangen), sondern auch bei Landes- und Regionalwettbewerben auszuloben. Die Förderung jugendlicher Komponisten und Komponistinnen im Rahmen der Wettbewerbe "Jugend komponiert" und "Schüler komponieren - Treffen junger Komponisten" sollte weiter ausgebaut werden. Schließlich bietet sich eine verstärkte Einbeziehung der Werke lebender Komponistinnen und Komponisten in die Fortbildungsangebote im Jugendbereich an (etwa in der Form von Auftragswerken, deren Einstudierung in Zusammenarbeit mit dem Komponisten und der analytischen Beschäftigung mit der Komposition).

Verstärkte Einbeziehung der Neuen Musik in die musikalische Berufsausbildung

Der zeitgenössischen Musik einschließlich der experimentellen und computergestützten Musik ist ein angemessener Stellenwert in der Ausbildung an den Musikhochschulen einzuräumen. Die zeitgenössische Musik muß als durchgehendes Unterrichtsprinzip Berücksichtigung finden, das Lehrangebot um spezielle Seminare zur Interpretation zeitgenössischer Musik erweitert werden. Dies gilt auch für die Ausbildung von Musikwissenschaftlern mit dem Berufsziel Musikkritiker und Musikredakteur. Den Kompositionsklassen der Musikhochschulen sollten elektronische Tonstudios zur Verfügung stehen.

Intensivierung der individuellen Künstlerförderung

Stipendien und Preise sollten verstärkt für die Förderung der zeitgenössischen Musik nutzbar gemacht und weiterentwickelt werden. Hier bieten sich insbesondere die Stipendien für Aufenthalte in der Villa Massimo in Rom und der Casa Baldi in Olevano sowie für Aufenthalte in der Cité Internationale des Arts in Paris an. In diesem Zusammenhang sollten auch geeignete Maßnahmen auf der Grundlage der Graduiertenfördergesetze der Länder entwickelt werden.

Kooperation mit den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten

Die Unterstützung und Verbreitung der zeitgenössischen Musikproduktion ist Bestandteil des Kulturauftrags des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Die Rundfunksinfonieorchester sind unverzichtbare Klangkörper zur Realisierung anspruchsvoller zeitgenössischer Musik.

Der Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einerseits und die kulturelle Zuständigkeit der Länder und Gemeinden andererseits können auch im Wege der Kooperation erfüllt werden. Hierfür sind geeignete Formen zu entwickeln.


erschienen in: Musikforum H. 85/1996