Die jüngsten Unterrichtsverordnungen für das kommende Schuljahr schreiben aus Sicht des Bundesverbandes Musikunterricht (BMU) den Ausnahmezustand für die musikalische Bildung an Schulen fort. Trotz Bekundungen zur Wiedereinführung des Regelbetriebs seitens der Ministerien sieht der BMU die Gefahr, dass sich der gerade erlebte Ausnahmezustand in eine neue Normalität wandelt. Ein genereller Verzicht auf Arbeitsgemeinschaften wird in diesen Verordnungen genauso selbstverständlich manifestiert wie jene Ad-hoc-Empfehlungen der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die ästhetischen Schulfächer zugunsten der Kernfächer zurückzustellen.
Vergleicht man die aktuellen Verordnungen der Kultusministerien, ist in einigen Ländern weder ein Bezug zum Infektionsgeschehen noch ein sachliches Eingehen auf die Spezifika musikalischer Ensemblearbeit erkennbar. Hier wird Musik zum Bauernopfer, damit die Unterversorgung an den Schulen ausgeglichen werden kann.

  • Dies bedeutet den Tod für jeden Schulchor, jedes Schulorchester: "Eine jahrgangsübergreifende Gruppenbildung ist grundsätzlich nicht möglich. [...] Die Regelungen zur Gruppenzusammensetzung gelten auch für Arbeitsgemeinschaften bzw. den Ergänzungsbereich und für den Ganztag. […] Singen in geschlossenen Räumen ist ausgeschlossen, dies gilt auch für die Verwendung von Blasinstrumenten.“ (Regelung in Baden-Württemberg zum Schuljahr 2020/21)
  • Als Regelbetrieb und zur Normalität wird erklärt, was schulische Ensemblearbeit grundlegend unterbindet: "Dieser quasi-Regelbetrieb ermöglicht maximalen Präsenzunterricht und Pflichtunterricht unter den gegebenen Bedingungen. Dafür verzichten wir auf den Mindestabstand von 1,5 Metern und setzen stattdessen auf möglichst feste Lerngruppen. Für den Unterricht ist die maximale Bezugsgröße des jeweiligen Schuljahrganges eine feste Kohorte.“ (Niedersachsen)
  • Entlarvender Verzicht auf Arbeitsgemeinschaften zugunsten der Kernfächer: "[Die in beiden Stundentafeln enthaltenen] Stunden für Arbeitsgemeinschaften können für Fördermaßnahmen zur Stärkung der Basiskompetenzen genutzt werden.“ (Niedersachsen, Primarbereich)
  • Widersprüchlich ist, dass für den Ganztagsbereich im gleichen Bundesland andere Regeln gelten: "Ganztagsschulen und Schulen mit ganztägigem Unterricht gestalten den verlängerten Schultag in eigener Verantwortung. […] "Für die Durchführung von Chor- und Orchesterproben wird auf die jeweils gültigen […] Rahmen-Hygieneplan verwiesen. Auch im Ganztagsbetrieb ist die Zusammensetzung der Gruppen unbedingt zu dokumentieren.“
  • In anderen Bundesländern bleibt das kulturelle Schulleben gefragt: "Angebote, an denen die Schülerinnen und Schüler freiwillig teilnehmen, wie Arbeitsgemeinschaften, können […] wieder angeboten werden“ (Berlin, Stand 9.6.20). "Beim Musik- und Theaterunterricht, bei Arbeitsgemeinschaften und anderen Angeboten im Zusammenhang mit dem Theater oder musischen Bereich sind Situationen mit Körperkontakt zu vermeiden und Alternativen zu entwickeln.“ (Berlin, aus dem Hygieneplan vom 23.6.20)
  • Verantwortliches Handeln und die behutsame Wiederaufnahme der musikalischen Arbeitsgemeinschaften müssen sich nicht ausschließen: "Unter Berücksichtigung des derzeitigen positiven Infektionsgeschehens kann musikpraktisches Arbeiten wieder aufgenommen werden. Das betrifft den Pflichtunterricht im Fach Musik, Musikklassen, aber auch Chöre, Orchester oder andere Musikensembles an Schulen. Voraussetzung sind eine instrumenten- und gesangsspezifische Risikoabschätzung und daraus resultierende risikoreduzierende Infektionsschutz- und Hygienemaßnahmen.“ (Rheinland-Pfalz, "Leitfaden für musikpraktisches Arbeiten in Schulen“ vom 6.7.20)

Die langfristen Folgeschäden, die sich aus der systematischen Auslöschung aller Arbeitsgemeinschaften ergeben, wie sie sich in einigen Bundesländern gerade abzeichnet, lassen sich bisher nur erahnen: Wird die musikalische Arbeit für ein Jahr eingestellt, ist kein Ensemble, kein Schulchor zu retten. Das Erlebnis des gemeinsamen Musizierens lässt sich nicht einfrieren!

"Tendenzen, einen essenziellen Bereich der menschlichen Ausdrucksfähigkeiten wegzurationalisieren, und Schule zur Dienstleistungsorganisation einer ökonomisch ausgerichteten Gesellschaft zu machen, waren schon lange vor der Corona-Pandemie erkennbar. Dabei sollte es eine zentrale Aufgabe der Schule sein, trotz krisenbedingter Einschränkungen ein Mindestmaß der Schulkultur aufrecht zu erhalten: Nur die Kultur macht den Mensch zum Menschen!“ (BMU-Präsident Prof. Dr. Jürgen Oberschmidt)

"Schule lebt nur durch Gemeinschaft und gerade die musikalischen Arbeitsgemeinschaften prägen das Schulleben in ganz besonderer Weise. Solche außerunterrichtlichen Aktivitäten, in denen sich die Ergebnisse einer jahrzehntelangen Aufbauarbeit kristallisieren, sind für alle Kinder und Jugendliche ein wichtiger Ort des gemeinsamen Fühlens und Erlebens. Hier können sie sich sozial und kulturell verwurzeln“. (BMU-Präsident Dr. Michael Pabst-Krueger)

Der BMU fordert die politischen Entscheidungsträger daher dazu auf, die fatalen Auswirkungen pauschal ausgesprochener Verbote auf die gesamte Schulkultur im Blick zu haben und im Zusammenwirken mit den Verbänden sowie unter Berücksichtigung evidenzbasierter Empfehlungen gemeinsam Lösungen zu finden, die ein Fortbestehen musikalischer Ensemblearbeit an Deutschlands Schulen auch unter Corona-Bedingungen ermöglichen. Solch ein verantwortungsvolles Handeln sind wir uns allen schuldig: den musizierenden Kindern und Jugendlichen, ihren Lehrerinnen und Lehrern – und nicht zuletzt der ganzen Schulgemeinde.

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