Unter der Leitung des designierten Gewandhauskapellmeisters Andris Nelsons kooperiert das Gewandhausorchester mit dem Boston Symphony Orchestra in den Bereichen Spielplangestaltung, Personalentwicklung und Ausbildung.

Andris Nelsons wird in der Saison 2017/2018 21. Gewandhauskapellmeister. Gleichzeitig ist er seit 2014 Music Director des Boston Symphony Orchestra (BSO). Diese beiden Engagements haben die Idee entstehen lassen, auf verschiedenen Ebenen eine wegweisende Kooperation der beiden renommierten Orchester ins Leben zu rufen. Nelsons sieht in der Allianz des Gewandhausorchesters mit dem BSO eine einzigartige Chance für beide Orchester in Bezug auf die Spielplangestaltung, die Personalentwicklung und Ausbildung von Orchestermusikern.

"Ich bin unglaublich dankbar, dass meine Kollegen im Gewandhausorchester und Boston Symphony Orchestra gemeinsam mit mir diese absolut einzigartige Partnerschaft eingehen möchten. Durch die enormen Stärken dieser beiden bemerkenswerten Orchester, die wir hier zusammen bringen, schaffen wir einen neuen und dynamischen Ansatz zur Programmgestaltung, mit dem wir unser Publikum hoffentlich begeistern werden. Von der Uraufführung neuer Werke in Boston und Leipzig, über den Austausch von Musikern auf professioneller wie auf der Ebene der Ausbildung, präsentieren wir ein breites Spektrum von Projekten. Diese einzigartige Partnerschaft hat großes Potenzial und bietet eine leistungsstarke Perspektive in der Welt der klassischen Musik", sagt Andris Nelsons.

"Unter der kreativen Leitung von Andris Nelsons und seinem leidenschaftlichen Engagement für die beiden Orchester wollen wir gemeinsam mit dem BSO eine zeitgemäße und innovative Kooperation initiieren, die neue Akzente in der Spielplanung setzt und sich an den Herausforderungen heutiger Orchesterorganisation orientiert", fasst Gewandhausdirektor Andreas Schulz die Intentionen zusammen.

"Diese neue Allianz zwischen dem Boston Symphony Orchestra und dem Leipziger Gewandhausorchester, die die großen Traditionen und den lebendigen Einfluss dieser Orchester feiert, hebt unser gemeinsames Erbe hervor und stimuliert neue künstlerische Synergien. Sie ist in der Orchesterwelt beispiellos und regt eine neue Dimension kreativer Programmgestaltung für beide Orchester an. Die Tiefe und Breite des Angebots der BSO/GHO Kooperation betonen die Rolle von Andris Nelsons als visionärer musikalischer Leiter, der sein Engagement für diese beiden großen Orchester und für die Welt der Orchestermusik im Allgemeinen leidenschaftlich wahrnimmt. Unter Andris Nelsons Leitung wird die BSO/GHO Kooperation viele Möglichkeiten für einen wichtigen musikalischen und kulturellen Austausch schaffen, der die außergewöhnlichen musikalischen Gaben des Boston Symphony Orchestra und des Gewandhausorchesters einem größeren weltweiten Publikum nahe bringt", Mark Volpe, Managing Director des Boston Symphony Orchestra.

NEUE HORIZONTE

"Ich bin entschlossen, meine Energien in die individuelle und gemeinsame musikalische Leitung meiner zwei Orchesterfamilien zu investieren. Unser Ziel ist es, die Orchester und die Zuhörer künstlerisch zu bereichern", erklärt Andris Nelsons. "Die Kooperation ist ein logischer Schritt, da die beiden Traditionsorchester im Laufe ihrer Geschichte schon einmal eng miteinander verbunden waren.“

Nach seinen Vorstellungen werden sich dem Publikum durch die Kooperation in Zukunft neue musikalische Horizonte im Konzertsaal erschließen. Das Gewandhausorchester und das BSO werden gemeinsam neue Kompositionen in Auftrag geben und jedes Orchester plant einmal pro Saison eine sogenannte Leipzig- bzw. Boston-Woche in seinem eigenen Konzerthaus.

"Das Engagement von Andris Nelsons eröffnet uns die Möglichkeit, neue Fragen ans Repertoire zu stellen", erläutert Dramaturgin Sonja Epping. Gemeinsam mit Andris Nelsons und ihrem Kollegen Anthony Fogg aus Boston sucht sie geeignete Komponisten für Auftragswerke und plant die spezielle Konzertwoche, in der "typisches" Repertoire aus Boston bzw. Leipzig im jeweils anderen Konzertsaal erklingt. Die ersten gemeinschaftlichen Kompositionsaufträge ergehen an den Münchner Jörg Widmann (*1973) und den New Yorker Sean Shepherd (*1979). In Zukunft werden europäische und amerikanische Komponisten, die verschiedene Stile repräsentieren und aus unterschiedlichen Generationen stammen, mit Werken beauftragt.

Die Konzerte in der Leipzig- bzw. Boston-Woche werden ergänzt mit Kammermusik, Vorträgen und Podiumsdiskussionen. Dieser Teil der Kooperation wird von Christoph Wolff kuratiert, der von 2001 bis 2013 Direktor des Leipziger Bach-Archivs war und unter anderem an der Harvard-Universität in Cambridge, Massachusetts, lehrt.

"Die Orchester interpretieren in der Leipzig- bzw. Boston-Woche das Kernrepertoire ihres Partnerorchesters. Jedes dieser einzigartigen Konzerte bietet jeweils ein individuelles Konzertprogramm", erklärt Andris Nelsons.

Das Gewandhausorchester präsentiert sich seit seiner Gründung 1743 als das "Uraufführungsorchester aus Tradition": Werke von Schubert, Schumann, Mendelssohn und Brahms ebenso wie von Schnittke, Henze oder Rihm erlebten durch das Orchester ihre Uraufführungen. Mit Andris Nelsons, im symphonischen Repertoire der Klassik und Romantik ebenso versiert wie in zeitgenössischen Kompositionen, knüpft das Gewandhausorchester ab der Saison 2017/18 verstärkt an diese Tradition an: Neben den großen Werken der Konzertliteratur stehen richtungsweisende Neukompositionen, die in enger Zusammenarbeit mit dem BSO beauftragt werden – so gehen einzigartige Tradition und musikalische Entdeckerlust gleichberechtigt Hand in Hand.

Das Leipziger bzw. Bostoner Publikum hat außerdem die Gelegenheit, in regelmäßigen Abständen das jeweils andere Orchester bei Gastspielen zu erleben. So ist im September 2018 ein Gastspiel des BSO mit Mahlers 3. Sinfonie in Leipzig geplant und umgekehrt ein Auftritt des Gewandhausorchesters in Boston im Herbst 2019.

PERSONALENTWICKLUNG IM ORCHESTER

Neben den im Spielplan sichtbaren Ergebnissen der Kooperation, planen die beiden Orchester auch Maßnahmen im Bereich Personalentwicklung. Die Kooperation ermöglicht es den Orchestermitgliedern, zwischen drei und sechs Monaten in den Konzerten des Partnerorchesters mit zu wirken. Der geplante Musikeraustausch zwischen dem Gewandhausorchester und dem BSO bietet den jeweiligen Orchestermitgliedern damit ein strukturiertes Angebot der beiden Arbeitgeber.

"Erfahrung in anderen kulturellen Kontexten zu sammeln, ist für die Weiterentwicklung eines Musikers wichtig. Der Austausch mit Kollegen auf internationaler Ebene und die notwendige Auseinandersetzung mit anderen professionellen Gegebenheiten erweitern den eigenen Horizont und bilden eine nachhaltige Bereicherung", erläutert Gewandhausdirektor Andreas Schulz.

Um solche Erfahrungen machen zu können, sind Musikerinnen und Musiker meist auf sich alleine gestellt. Dazu kommt, dass ein voller Spielplan mit Proben, Konzerten, Kantaten und Opernvorstellungen, entsprechender Vorbereitung sowie kammermusikalische und solistische Tätigkeiten sehr wenig Zeit für die Organisation der persönlichen Weiterbildung lassen.

"Für uns fällt diese Maßnahme unter das Stichwort ,Personalentwicklung' – ähnlich
unseren Weiterbildungen und Schulungen, die wir für Mitarbeiter*innen aus Verwaltung
und Technik regelmäßig anbieten", sagt Schulz.

INTERNATIONALE AUSBILDUNG FÜR ORCHESTERMUSIKER, DIRIGENTEN UND KOMPONISTEN

Teil der zweijährigen Ausbildung im Rahmen der 2005 gegründeten Mendelssohn-Orchesterakademie des Gewandhausorchesters (in Kooperation mit der Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy“, Leipzig) wird in Zukunft ein Aufenthalt in der Sommerakademie des Tangelwood Music Centre (TMC) des BSO sein. Im 1940 von Serge Koussevitzky gegründeten TMC erhalten nicht nur Instrumentalisten den letzten Schliff, sondern auch Sänger, Komponisten und Dirigenten. Einige der berühmtesten Absolventen der Dirigentenakademie sind beispielsweise Leonard Bernstein, Claudio Abbado und Seji Ozawa.

Umgekehrt wird ein Meisterschüler der TMC-Komponistenakademie ein Werk für die Leipziger Akademisten komponieren, die ein Mitglied der TMC-Dirigentenklasse in Leipzig mit den Akademisten einstudieren und im Konzert leiten wird. Darüber hinaus hat dieser Nachwuchsdirigent die Möglichkeit, Andris Nelsons bei dessen Proben mit dem Gewandhausorchester zu assistieren.

Die Geschichte der engen künstlerischen Verbindung zwischen Leipzig und Boston begann im Jahr 1881, als Orchestergründer Henry Lee Higginson den am Leipziger Konservatorium ausgebildeten Georg Henschel als ersten Dirigenten des Boston Symphony Orchestra (BSO) engagierte. In der Folge wurden immer wieder Dirigenten berufen, die in Leipzig ausgebildet worden waren, oder Stellen im Gewandhausorchester innehatten. Darunter Wilhelm Gericke, Emil Pauer, Max Fiedler, Karl Muck und – vielleicht der wichtigste - Arthur Nikisch. Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts wurde die Verbindung bekräftigt, als Charles Münch im Jahr 1949 Chefdirigent des BSO wurde (bis 1962). Münch hatte ebenfalls in Leipzig studiert und war von 1923 bis 1933 erster Konzertmeister des Gewandhausorchesters. Darüber hinaus ist der Neubau der Boston Symphony Hall aus dem Jahre 1900 vom Zweiten Gewandhaus inspiriert.