US-amerikanisches Gefängnisschild
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Musizieren birgt für die individuelle Entwicklung von Inhaftierten viel Potenzial. Die US-amerikanische Musikpädagogin Mary Cohen forscht seit mehr als 15 Jahren dazu und berichtet im Gespräch mit Alicia de Bánffy-Hall, was sie an ihrem Thema fasziniert, welche Initiativen es gibt und was sie bislang herausgefunden hat.

DE BÁNFFY-HALL: Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für einen Austausch nehmen. Bitte stellen Sie sich doch zunächst kurz vor. 

COHEN: Mein Name ist Mary Cohen. Ich bin Professorin für Musikpädagogik an der Universität von Iowa in den Vereinigten Staaten. Unsere Universität liegt etwa vier Stunden westlich von Chicago im Norden der Vereinigten Staaten. Dort gebe ich Unterricht für angehende Musiklehrkräfte und betreibe Forschungsarbeit über das Musizieren in Gefängnissen und andere Bereiche wie Songwriting und kollaborative Communities, Musik und Friedensarbeit. Darüber hinaus habe ich viele Doktorand*innen und Masterstudierende und unterrichte eine Reihe von Aufbauseminaren, einen Kurs über die Grundlagen der Musikpädagogik, einen Kurs über die Einführung in die Forschung, einen allgemeinen Kurs über Musikmethoden und einen von mir konzipierten Kurs über Musizieren und Friedensarbeit.

DE BÁNFFY-HALL: Können Sie uns mehr darüber erzählen, wie Sie zur Musikarbeit in Gefängnissen gekommen sind?

COHEN: Das ist eine interessante Frage, bei der ich mir noch nicht ganz sicher bin, wie ich sie am treffendsten beantworten soll. Bevor ich promovierte, sangen mein Mann und ich in einem Chor in der Gegend von Kansas City, und einige Mitglieder dieses Chors engagierten sich in einem Programm namens „Arts in Prison“, dessen Ursprünge auf einen Chor namens „The East Hill Singers“ zurückgehen. Hierbei handelt es sich um einen Chor in einem Gefängnis in Kansas, das nur über eine geringe Sicherheitsstufe verfügt. An Konzerttagen durften die Männer des Gefängnischors das Gefängnis verlassen und zusammen mit einer Gruppe von Freiwilligen, die nicht inhaftiert waren, ein Konzert in der Gemeinde geben. Das Konzert fand dann z. B. in einer Kirche oder an einem anderen öffentlichen Ort statt, sodass die Menschen aus der Gemeinde problemlos daran teilnehmen konnten. Eines Sonntags besuchte ich aus Neugierde ein solches Konzert. Und dort war ich wirklich überwältigt von dieser Vorstellung, dass Menschen, die zuvor Verbrechen begangen hatten, nun im Einklang und in Harmonie mit Menschen aus genau der Gesellschaft sangen, die sie dieser Verbrechen beschuldigt hatte. Meine Neugierde für diesen Ansatz wurde zunehmend größer, und als ich etwa anderthalb Jahre nach diesem Konzert mein Studium abschloss, begann ich, mich mehr und mehr mit dem Chorgesang in Gefängnissen zu befassen und versuchte, so viel wie möglich von dieser Idee zu verstehen. Während meines Studiums habe ich viel dazu geforscht und meine Dissertation geschrieben, in der ich einen theoretischen Rahmen für Chorgesang in Gefängnissen auf der Grundlage von Christopher Smalls Konzept des „Musickings“ untersucht habe. [1]  Small definiert Musik als ein Verb und betont, dass das Musizieren sowohl die klanglichen Aspekte, die sich die meisten Menschen unter Musik vorstellen, als auch die sozialen Aspekte umfasst, was zu jener Zeit etwas völlig Neues war. Meine Dissertation habe ich im Jahr 2007 abgeschlossen. Ein Großteil meiner Forschung diente dazu, meine Theorie der interaktiven Chorgesangspädagogik auf der Grundlage von Smalls Konzept des „Musickings“ zu erproben, indem ich darlegte, dass das Chorsingen in Gefängnissen, sofern es wirksam unterstützt wird, das Potenzial für eine messbare persönliche und soziale Entwicklung birgt. Dieses messbare Wachstum lässt sich mit dem kriminologischen Konzept der „Desistance (dt. Abstandnahme)“ erklären – dem Prozess der Abkehr von kriminellem Verhalten oder dessen Beendigung. Nach Ansicht von Kriminologen gibt es drei Ebenen der Desistance: die primäre oder Verhaltensänderung, die sekundäre oder Identitätsänderung und die tertiäre oder die politischen und sozialen Prozesse, die die Bereitschaft, von kriminellem Verhalten Abstand zu nehmen, beeinflussen. Zu diesen sozialen Prozessen gehört auch die Frage, wie Menschen, die sich nicht im Gefängnis befinden, inhaftierte und aus dem Gefängnis entlassene Menschen unterstützen können. Untersuchungen haben gezeigt, dass das Musizieren in Gefängnissen einen positiven Beitrag zu allen drei Ebenen leisten kann. Für mich und andere Menschen außerhalb des Gefängnisses, die an Konzerten von Gefangenenchören teilnehmen oder mit inhaftierten Menschen singen, bedeutet dies, dass wir etwas über unsere gemeinsame Menschlichkeit lernen, unsere Sichtweise auf Menschen im Gefängnis verändern und unser Bewusstsein für die Notwendigkeit grundlegender Veränderungen im Strafrechtssystem schärfen.

Betrachtet man diese Art von sozialem Wachstum durch Musizieren, wie es in Deutschland durch die Community Music praktiziert wird, so wird deutlich, dass sich die Menschen der sozialen Auswirkungen und des positiven Einflusses durch das Musizieren immer mehr bewusst werden. Nicht, dass die Menschen das nicht schon vorher gewusst hätten, aber ich denke, dass Musikpädagog*innen, Community Musicians und andere neugierige Menschen, die nach innovativen Wegen zur Bildung von Community suchen, das Musizieren als eine Möglichkeit sehen, dies zu unterstützen.

Darum hat mich dieser Gefängnischor aus Kansas wirklich stark beeinflusst. Als ich 2007 an die Universität von Iowa kam und meine Stelle als Assistenzprofessorin für Musikpädagogik antrat, beschäftigte ich mich eingehender mit Gefängnischören, bereitete ein Grundkonzept vor und plante, 2009 einen Chor nach dem Vorbild des Gefängnischors East Hill Singers aus Kansas zu gründen. So kam es, dass in Iowa die Studierenden der Universität, die Mitarbeitenden der Fakultät und andere Menschen aus der Gemeinde mit mir in das Gefängnis kamen und sich einer Gruppe von inhaftierten Männern anschlossen. Wir begannen mit 44 Leuten, 22 aus dem Gefängnis und 22 von außerhalb. Als wir im März 2020 wegen Corona schließen mussten, waren insgesamt über 80 Leute im Chor – jeweils zur Hälfte inhaftierte und nicht inhaftierte Sänger*innen – und es bildete sich eine wirklich einzigartige Familie, die durch gemeinsames Singen, wöchentliche Zusammenkünfte, das Kreieren von eigenen Liedern und den Austausch von Gedanken miteinander verbunden waren. Zum Ende jeder Saison, jeweils einmal im Mai und einmal im Dezember, veranstalteten wir ein Konzert, das von 2009 bis 2015 mit nur 85 Zuhörenden aus der Gemeinde begann. Als Jim McKinney 2015 Direktor wurde, erhöhte er die Besucher*innenzahl und erweiterte das Programmangebot. Es wurde sehr schnell deutlich, dass Menschen, die sonst nie eine Verbindung zu Gefängnissen hatten, durch den Chor, durch das gemeinsame Musizieren von Inhaftierten und Nicht-Inhaftierten ihre Sicht auf die Menschen im Gefängnis veränderten und ihnen unsere gemeinsame Menschlichkeit bewusstwurde. Dieses Projekt schien die Weltanschauung und die Einstellung der Menschen zu verändern, und es liegen uns einige Untersuchungen vor, die diese Behauptung untermauern. Dennoch gibt es noch so viel zu tun.

„Es bildete sich eine wirklich einzigartige Familie, die durch gemeinsames Singen, wöchentliche Zusammenkünfte, das Kreieren von eigenen Liedern und den Austausch von Gedanken miteinander verbunden waren.“
Autor
Mary Cohen

DE BÁNFFY-HALL: Sie sprachen gerade davon, wie es die Sicht der Konzertbesucher*innen verändert hat. Welche Beobachtungen machten Sie bei den Insassen, die dort sangen? Welche Veränderungen haben sie während ihrer Zeit im Gefängnis erfahren? Haben Sie Beobachtungen oder Forschung darüber, was mit ihnen geschah, nachdem sie das Gefängnis und den Chor verlassen hatten?

COHEN: Eine großartige Frage! Also, wir haben eine Reihe von Aspekten im Zusammenhang mit dem Selbstwertgefühl gemessen. Und es zeigte sich eine eindeutige Verbesserung des Selbstwertgefühls, sowohl in Bezug auf die eigene Wertschätzung als auch auf die eigene Kompetenz. [2] Viele der Männer im Chor konnten während ihrer Zeit im Gefängnis ein Gefühl der Menschlichkeit entwickeln und sich als würdig empfinden, denn in den Vereinigten Staaten nimmt das Gefängnissystem den Menschen das Gefühl der Menschlichkeit, sie werden zu Zahlen, sie verlieren den direkten Kontakt zu ihren Communities, und so viele Dinge werden ihnen weggenommen. Die Wiederaneignung des Gefühls der Menschlichkeit war eine große Transformation für sie.

Darüber hinaus bot der Chor den inhaftierten Sängern die Möglichkeit, Beziehungen zu Familienangehörigen außerhalb des Gefängnisses auf neue Weise zu pflegen. Viele der Männer hatten seit mehreren Jahren keinen Familienbesuch mehr gehabt, und ihre Angehörigen nahmen eine stundenlange Reise auf sich, um ein Konzert zu besuchen. Sobald sie ins Gefängnis kamen und ihr Familienmitglied beim Singen erlebten, waren sie stolz darauf, dass es dort sang und so schöne Musik machte. Viele der selbstgeschriebenen Songs handeln von Familienmitgliedern, wodurch sich neue Möglichkeiten ergeben, soziale Beziehungen auf persönlicher Ebene aufzubauen. Und sei es auch nur, dass man sich plötzlich über etwas Neues unterhalten kann – was hast du heute gemacht? Einige dieser Dinge haben den familiären Beziehungen eine neue Tiefe verliehen, obwohl viele der Inhaftierten keine Verbindung zur Familie haben, weil sie vielleicht ein Verbrechen gegen ihre Familie begangen haben oder ihre Familie wegen ihrer Vergehen verletzt ist oder weil sie ihre Familie auf irgendeine Weise weh getan haben. Für einige von ihnen kann der Chor dann zu einer Art Wahlfamilie werden. Derzeit untersuche ich zusammen mit einer Doktorandin diese möglichen familiären Beziehungen mit ehemals inhaftierten Chormitgliedern des Oakdale Choir und ihren Familien sowie mit ehemaligen Sänger*innen des von Dr. Amanda Weber gegründeten Frauengefängnischors Voices of Hope und der von Dr. Catherine Roma gegründeten Gefängnischöre in Ohio.

DE BÁNFFY-HALL: Könnten Sie die Geschichte dieses Chores erzählen? Die Arbeit ist so vorbildlich, und auch die Tatsache, wie sie endete, finde ich sehr wichtig. Man kann auch daraus etwas lernen, nicht wahr? Sie haben während Ihrer Zeit drei Gefängnisdirektoren erlebt, richtig?

COHEN: Ja, das ist richtig, Alicia. Wie ich bereits erwähnt habe, erlaubte der dritte Gefängnisdirektor, Jim McKinny, einem größeren Chor mit bis zu 40 freiwilligen Chormitgliedern von außerhalb jede Woche Zutritt zum Gefängnis. Wir hatten auch mehrere internationale Veranstaltungen, die wir im Gefängnis durchführen konnten. Und zwar drei verschiedene Ereignisse: In Iowa City gibt es eine Organisation, die mit Menschen aus der ganzen Welt arbeitet, die etwas über innovative Sozialprogramme durch die Künste lernen wollen. Wir haben also zweimal eine Gruppe von zehn bis zwölf Leuten in das Gefängnis gebracht, die einen Rundgang durch das Gefängnis gemacht haben, anschließend haben wir gemeinsam gesungen. Für sie war es eine Gelegenheit, über dieses Programm zu sprechen und über einen neuen Weg nachzudenken, wie man durch das Musizieren Kontakte knüpfen und eine Gemeinschaft, eine Community, aufbauen kann.

Neben diesen beiden internationalen Gruppen kam auch der Soweto Gospel Choir nach Iowa City und wir konnten eine Veranstaltung durchführen, die ich als „musikalischen Lernaustausch“ bezeichnet habe. Diese Veranstaltung beruht auf einem wirklich interessanten Programm namens „Community Learning Exchange“. Das Buch, auf dem die Idee basiert, heißt „Reframing Community, Partnerships in Education Uniting the Power of Place and the Wisdom of People (dt. Umdeutung von Community, Partnerschaften in der Bildung, die die Kraft des Ortes und die Weisheit der Menschen vereinen)“. [3] Allerdings handelt es sich bei der Grundstruktur dieser Veranstaltungen um einen moderierten Dialog zu einem bestimmten Thema. Also haben wir das Ganze in einen musikalischen Lernaustausch umgewandelt, und der Soweto Gospel Choir hat mit uns Lieder geteilt, die wir alle gesungen haben.

Und dann hatten wir auch zwei musikalische Gäste: Maggie Wheeler – die Hintergrundgeschichte ist ... kennen Sie die amerikanische Fernsehserie „Friends“? Die Serie ist ziemlich populär, und Maggie Wheeler war die Figur, die Janice gespielt hat – sie war diejenige, die reinkam und „oh mein Gott“ sagte. Maggie ist eine Singer/Songwriterin, und ich entdeckte ein Lied von ihr mit dem Titel „How shall we come together? Wir werden singend zusammenkommen.“ Ich fragte Maggie, ob wir ihr Lied für diese Veranstaltung verwenden dürften, und nach ein paar Gesprächen meinte sie: „Moment, Du willst mein Lied in einem Gefängnis mit dem Soweto Gospel Choir verwenden? Dann komme ich nach Iowa!“ Sie reiste also aus Los Angeles an, und eine Freundin von ihr, Sara Thomson, die in Minnesota studiert, schloss sich ebenfalls an. Sara und Maggie leiteten die ganze Gruppe an Lieder zu singen, und auch der Oakdale Choir teilte Lieder. Das Thema der Veranstaltung, „Changes We Choose“ (dt. Veränderungen, die wir selbst wählen), wurde sowohl von einer Gruppe interner als auch von einer Gruppe externer Sänger*innen ausgesucht. Während der gesamten Veranstaltung leitete ich ein Gespräch zwischen allen Anwesenden, das sich auf dieses Thema bezog. Es war eine wirklich aufregende Veranstaltung, bei der der gesamte Soweto Gospel Choir, Maggie und Sara anwesend waren. Und später haben wir ein Forschungsprojekt zu diesem Thema durchgeführt, das gerade im International Journal of Music Education veröffentlicht wurde. [4]

Darüber hinaus kooperierte Jim McKinney mit dem damaligen Präsidenten der University of Iowa, und gemeinsam initiierten sie ein College-Kredit-Programm mit der Bezeichnung The University of Iowa Liberal Arts Beyond Bars (dt. Universität von Iowa Freie Künste jenseits von Gitterstäben): UI LABB.

DE BÁNFFY-HALL: Wie geht es jetzt mit dem Chor weiter?

COHEN: In den Vereinigten Staaten hat der Gefängnisdirektor, also die Person, die für das Gefängnis verantwortlich ist, so ziemlich die alleinige Macht über das, was in der von ihm beaufsichtigten Einrichtung geschieht. Deshalb kann sich je nachdem, wer an der Macht ist, die Programmgestaltung innerhalb des Gefängnisses ändern, und genau damit haben wir es in Iowa zu tun. Der derzeitige Direktor in Oakdale, nicht mehr Jim McKinney, hat entschieden, dass der Chor nicht in seine Programmplanung passt und dass er weder den Platz noch das Personal hat, um den Chor zu betreuen. Einer der Gründe für diese harte Haltung gegenüber der Programmgestaltung ist die Tatsache, dass zwei Männer in einem anderen Gefängnis in Iowa im Frühjahr 2021 versuchten zu fliehen und zwei Bedienstete ermordeten. Nach diesem extrem traumatischen Ereignis überprüfte das gesamte Iowa Department of Corrections, was ihrer Meinung nach geändert werden musste, und entfernte so ziemlich alles, was man sich vorstellen konnte: von der Gartenarbeit im Gefängnis, weil sie die Gartenschläuche nicht wollten, bis hin zum Künstlerbedarf. Sie schufen neue restriktive Richtlinien, die die Möglichkeiten für freiwillige Programme in den Gefängnissen extrem einschränkten.

DE BÁNFFY-HALL: Was für eine Herausforderung! Wie reagieren Sie darauf?

COHEN: Ich habe viel getrauert und versuchte, Kontakte zu Menschen zu knüpfen, die Programme für vom System betroffene Jugendliche anbieten. Diesen Sommer leite ich Partnerschaften für kollaboratives Songwriting. Ich bringe inhaftierte Songwriter individuell mit externen Songwriter*innen zusammen. Über ein elektronisches Kommunikationssystem und Telefonanrufe arbeiten sie gemeinsam an einem Originalsong. [5] Der*die externe Songwriter*in kann um einen Sponsor bitten, der beiden ein Stipendium zahlt. Der/die Sponsor*in und der/die externe Songwriter*in haben dann die Wahl, etwas über einen bestimmten Aspekt des Gefängnissystems zu lernen, den sie noch nicht kannten. So haben sie die Möglichkeit, ihr Bewusstsein für die negativen Aspekte des Gefängnisses und des Strafvollzugs zu schärfen – ich habe eine lange Liste von Dingen, zu denen sie lernen können. Darüber hinaus haben sie die Möglichkeit, innovative Programme für transformative oder wiedergutmachende Gerechtigkeit in den USA kennenzulernen, wie zum Beispiel Common Justice  [6] , den Awakening Exchange im Staatsgefängnis von Maine, [7] und das Skyline Correctional Center in Colorado, [8] um nur einige zu nennen.

„Viele der selbstgeschriebenen Songs handeln von Familienmitgliedern, wodurch sich neue Möglichkeiten ergeben, soziale Beziehungen auf persönlicher Ebene aufzubauen.“
Autor
Mary Cohen

DE BÁNFFY-HALL: Können Sie den Leser*innen etwas über Musikpädagogik in US-Gefängnissen erzählen? Als ein sehr spezifischer Kontext: Was sind die Herausforderungen, Praxisansätze und Erfolge?

COHEN: Nachdem ich ein Buch zu diesem Thema geschrieben und schon solange daran gearbeitet habe, ist es so interessant wieviel mehr Forschungsbedarf besteht. Unser Buch: Music-Making in US Prisons: Listening to Incarcerated Voices [9] (mit Co-Autor Stuart Paul Duncan) gibt jedoch einen guten Überblick über das Musizieren in US-Gefängnissen in der Vergangenheit, zeitgenössische Instrumental-, Chor- und Songwriting-Programme, innovative Pädagogiken in Gefängnissen und stellt die Auffassung in Frage, dass Gefängnisse für mehr Sicherheit in der Gesellschaft sorgen. Wir haben geschichtliche Nachforschungen angestellt, zur Zeit vor dem Anstieg der Masseninhaftierungen, der in den siebziger Jahren begann. Schon damals gab es zahlreiche Musikprogramme, die Brücken zwischen den Menschen innerhalb und außerhalb der Gefängnisse schufen, wie zum Beispiel die „East Hill Singers“, die das Gefängnis verließen und in den Communities auftraten. Es gab wesentlich mehr Musikgruppen, sogar Kinder kamen in die Gefängnisse und traten auf. Es passierte einfach viel mehr mit Musik. Nicht, dass die Gefängnisse besonders toll waren oder wir ein gutes System hatten, aber es wurde einfach mehr Musik gemacht.

DE BÁNFFY-HALL: Das war also vor den 1970er Jahren, sagten Sie?

COHEN: Ja, im zweiten Kapitel unseres Buches beschreiben wir, wie bereits zwischen 1907 und 1917 ein ehemaliger Musikpädagoge in Iowa Gefängnisdirektor des Iowa State Penitentiary wurde. Er unterstützte die Gründung eines Chors und eines Orchesters und unternahm während seiner Zeit als Gefängnisdirektor fortschrittliche Dinge. Und das war nur ein Beispiel, es gibt noch andere Orte im Mittleren Westen, im Süden und an anderen Orten, über die wir nicht berichtet haben. Es besteht einfach noch mehr Forschungsbedarf. In Kalifornien gibt es ein Programm mit dem Namen „Arts in Corrections“ (dt. Kunst im Strafvollzug), das eine Reihe von kunstbasierten Programmen in Gefängnissen anbietet, wie z. B. Jack Bowers, der eine Jazzband im Soledad-Gefängnis leitete Das Titelbild unseres Buchs zeigt ein Bild eines ehemals inhaftierten Künstlers, Jason Chengrian, der ein bildender Künstler im Arts in Corrections-Programm in Soledad war. Chengrian malte Bowers mit seiner Band im Gefängnis. Laut Chengrian haben Jack und das Arts in Corrections Program dazu beigetragen, dass sich „viele der Insassen an diesem kalten Ort menschlicher fühlten.“ [10]

Es gibt noch einige andere Instrumentalprogramme, die in anderen Teilen der USA durchgeführt werden. Eine Reihe verschiedener gemeinnütziger Organisationen bieten solche Programme an: Da wäre beispielsweise eine Organisation namens Decoda, die in Gefängnissen arbeitet, [11] „Musicambia“, [12] Music on the Inside oder „MOTI“, [13] und einige andere Programme, die Theater und Musik miteinander verbinden, sowie ein Jugendprogramm in Chicago namens „Storycatchers Theatre“. [14] Dann sind da noch Chöre – ich erwähnte bereits die „East Hill Singers“, und auch in Ohio leitet Jody Kerchner einen Chor im Grafton-Gefängnis; sie ist Professorin am Oberlin College, und sie haben gerade ein sehr interessantes Songwriting-Projekt durchgeführt. „Documentary Songwriting“ heißt das Projekt, das von einem Mann namens Malcolm Brooks geleitet wird, „DocSong“, wirklich interessant. „Jail Guitar Doors“ ist ein weiteres Programm in den USA. Es begann in Großbritannien und wurde von Wayne Kramer in den USA ins Leben gerufen. Sie stellen Menschen im Gefängnis Gitarren zur Verfügung und schreiben Songs. [15] Und dann ist da natürlich noch mein Freund André de Quadros, der ein eigenes Projetkt entwickelt hat und gerade zusammen mit Emilee Amrein ein Buch mit dem Titel „Empowering Song – Music Education from the Margins“ [16] veröffentlicht hat. Seine Arbeit orientiert sich an dem Theater der Unterdrückten von Augusto Boal und wurde zunächst in einem Gefängnis in Massachusetts durchgeführt. Auch das Buch „My Body Was Left on the Street – Music Education and Displacement“ von André (de Quadros) und Kính (T.) Vu. enthält vier Kapitel von derzeit oder früher inhaftierten Männern. [17]

In den USA wird viel mit kultursensibler Pädagogik, antirassistischer Arbeit, Entkolonialisierung des Musikklassenzimmers und all diesen Dingen gearbeitet, die wichtig sind. Was könnte mehr zur Entkolonialisierung beitragen, als verletzende Räume wie Gefängnisse umzugestalten? Warum nicht gleich dort ansetzen und eine größere Veränderung mit dem Ziel vornehmen, fürsorgliche Gemeinschaften zu schaffen? In den USA gab es vor dem, was wir heute die Vereinigten Staaten nennen, zahlreiche einheimische indigene Völker, die friedensstiftende Zirkel und das Prinzip der wiedergutmachenden Gerechtigkeit praktizierten. Das überholte, aus der Kolonialzeit stammende Rechtssystem ist auf ein „wir und ihr“, auf Opposition und Antagonismus ausgerichtet. Und genau an diesem Punkt befinden wir uns gegenwärtig, weshalb Forderungen nach der Abschaffung von Gefängnissen die Tatsache unterstreichen, dass das derzeitige System nicht funktioniert, um fürsorgliche und gesunde Gemeinschaften zu schaffen. Wir müssen Räume für Konfliktbearbeitung, Konfliktmanagement, Heilung, Barmherzigkeit und Vergebung schaffen. In den USA haben wir keine adäquaten Lösungen für Menschen, die mit Drogenproblemen zu kämpfen haben, wir haben keine guten öffentlichen Gesundheits-/Sozialsysteme, um die grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen, es gibt Probleme mit dem Pflegesystem, Probleme mit häuslicher Gewalt. Die Abolitionist*innen fordern eine vollständige Überarbeitung dieser sozialen Probleme [18]. Zudem müssen wir das Strafmaß überarbeiten, damit die Menschen nicht mehr so lange im Gefängnis sitzen müssen, und wir brauchen mehr Programme zur Unterstützung ihrer Bedürfnisse und ihres Wiedereingliederungsprozesses. Ebenso brauchen wir mehr Heilungsmöglichkeiten für die Überlebenden von Straftaten.

DE BÁNFFY-HALL: Wie sehen Sie in Ihrer Position als einer derjenigen, die den Bereich des Musizierens in Gefängnissen aus nächster Nähe beobachtet, miterlebt und beeinflusst haben, auch auf internationaler Ebene als Teil einer internationalen community, den internationalen Bereich der Musikpädagogik im Strafvollzug?

COHEN:  In den Vereinigten Staaten gibt es eine wirklich brillante Frau namens Mariame Kaba. Sie ist eine Abolitionistin im Sinne der transformativen Gerechtigkeit. Ihre „Arbeit konzentriert sich auf die Beendigung von Gewalt, den Abbau des industriellen Gefängniskomplexes, transformative Gerechtigkeit und die Unterstützung der Entwicklung jugendlicher Führungskräfte.“ [19] Sie würde – und ich denke, viele Menschen würden das tun – für die Idee plädieren, den „industriellen Gefängniskomplex“ abzuschaffen. Laut der Organisation Critical Resistance ist hier der Begriff „industrieller Gefängniskomplex“ die eindeutig beste Definition. [20] Dieser Begriff beschreibt die „sich überschneidenden Interessen von Regierung und Industrie, die Überwachung, Polizeiarbeit und Inhaftierung als Lösungen für wirtschaftliche, soziale und politische Probleme einsetzen“. Wenn man dies wirklich abschaffen will, muss man es auf globaler Ebene angehen! Dabei gibt es zahlreiche Möglichkeiten, dies „abzuschaffen“ – neue Wege der Konfliktbewältigung zu gehen, alternative Praktiken zur Lösung zwischenmenschlicher Konflikte zu entwickeln, die Grundbedürfnisse aller Menschen zu befriedigen, Studienschulden zu streichen, persönliche und soziale Verantwortung für die Schädigung anderer oder unserer Umwelt zu übernehmen, Selbstmitgefühl zu entwickeln, schädliche Machtstrukturen zum Wohle der Allgemeinheit auszugleichen – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Diese Probleme sind in allen Ländern und bei allen Menschen anzutreffen. Ich bin Co-Leiterin einer internationalen Gruppe, die im Januar 2022 begann und seitdem wächst. Sie heißt „The International Music and Justice Network: IMAJIN Caring Communities“. Wir treffen uns monatlich auf Zoom und bieten Menschen aus der ganzen Welt einen Raum, um sich zu treffen und voneinander zu lernen; wir teilen Ressourcen und arbeiten zusammen. Bislang sind vierzehn Länder vertreten, und auf der E-Mail-Liste stehen derzeit über 100 Personen. Menschen, die Musik in Gefängnissen praktizieren, forschen oder sich für das Thema interessieren, sind herzlich willkommen. Damit sollen Menschen, die diese Arbeit machen, erfahren, was auf der ganzen Welt passiert, was sie an innovativen Dingen tun und wie wir voneinander lernen können. Außerdem entwickeln wir Ideen für eine Broschüre, die die Ergebnisse des Musizierens in Gefängnissen in verschiedenen globalen Kontexten zusammenfasst. Diese Broschüre könnte für die Advocacy-Arbeit genutzt werden, beispielsweise wenn Menschen daran interessiert sind, sich an ihr lokales Rechtssystem zu wenden, egal ob es sich dabei um ein Gefängnis, ein Resozialisierungszentrum oder eine andere Community-basierte Einrichtung handelt. Untersuchungen zeigen, dass diese Programme – und das nicht nur in den Vereinigten Staaten – das Selbstwertgefühl stärken. Zudem wird ein Raum geschaffen, in dem man sich ermutigt oder motiviert fühlt, sich an anderen Musikprojekten oder anderen Bildungsprojekten zu beteiligen. Um ein Gefühl der Inspiration, der Motivation und der Identität, und vieles mehr zu unterstützen. Diejenigen, die daran interessiert sind, dieser IMAJIN Caring Communities Gruppe beizutreten, können sich gern an mich per E-Mail wenden unter mary-cohen@uiowa.edu.

DE BÁNFFY-HALL: Vielen Dank für dieses Interview, Mary!

Das Gespräch wurde am 02. Februar 2023 im Auftrag des Deutschen Musikinformationszentrums geführt.

Mary L. Cohen, außerordentliche Professorin für Musikpädagogik an der University of Iowa, USA, forscht zu Musizieren und Wohlbefinden. 2022 veröffentlichte sie zusammen mit Stuart Duncan das Buch "Music-Making in U.S. Prisons: Listening to Incarcerated Voices". Sie gründete das International Music and Justice Network: IMAJIN Caring Communities, ein Netzwerk von Forschern aus 14 Ländern, die sich monatlich treffen und gemeinsam an Projekten arbeiten. Von 2009 bis 2020 leitete sie den Oakdale Community Choir (http://oakdalechoir.lib.uiowa.edu/) mit inhaftierten und nicht inhaftierten Teilnehmern.
Die Musikpädagogin und Professorin Mary Cohen

Alicia de Bánffy-Hall ist Professorin für Musik in der Soziale Arbeit / Community Music an der Hochschule Düsseldorf. Sie hat Europaweit als Community Musician gearbeitet und ist Vorständin des Community Music Netzwerk, Mitglied des Editorial Boards des International Journal for Community Music, Research Fellow am Wilfrid Laurier Music in the Community Centre (Kanada) und Vorsitzende der Community Music Activity Commission (International Society of Music Education).

Fußnoten

  1. Small, C., 1998. Musicking: The meanings of performing and listening. Wesleyan University Press.
  2. Mruk, C. J. (2013). Defining self-esteem as a relationship between competence and worthiness: How a two-factor approach integrates the cognitive and affective dimensions of self-esteem. Polish Psychological Bulletin, 44(2), S. 157–164. Online unter https://doi.org/10.2478/ppb-2013-0018 (Zugriff: 18. Mai 2023)
  3. Guajardo, M. A., F. Guajardo, C. Janson, & M. Militello. (2016). Reframing community partnerships in education: United the power of place and wisdom of people. Hrsg.: Routledge.
  4. Harry, A. G., Cohen, M. L., & Hollingworth, L. (2022). An evaluation of a musical learning exchange: A case study in a U.S. prison. International Journal of Music Education, 0(0). Online unter https://doi-org.proxy.lib.uiowa.edu/10.1177/02557614221115799 (Zugriff: 18. Mai 2023).
  5. Ein eindrucksvolles Beispiel für eine aktuelle Zusammenarbeit ist „Over/Under“ von Lyndsey Scott und Anthony Rhodd unter: https://lyndseyscott.bandcamp.com/track/over-under (Zugriff: 18. Mai 2023)
  6. Vgl. https://www.commonjustice.org/ (Zugriff: 18. Mai 2023).
  7. Vgl. https://www.awakeningexchange.com/ (Zugriff: 18. Mai 2023).
  8. Vgl. https://cdoc.colorado.gov/facilities/canon-city/skyline-correctional-center (Zugriff: 18. Mai 2023)
  9. Cohen, M. L. and Duncan, S. P., 2022. Music-making in US prisons: Listening to incarcerated voices. Hrsg.: Wilfrid Laurier Univ. Press.
  10. Cohen & Duncan, S. 169.
  11. Vgl. https://www.decodamusic.org/ (Zugriff: 18. Mai 2023)
  12. Vgl. https://www.musicambia.org/ (Zugriff: 18. Mai 2023).
  13. Vgl. https://www.musicontheinside.org/ (Zugriff: 18. Mai 2023).
  14. Vgl. https://www.storycatcherstheatre.org/ (Zugriff: 18. Mai 2023).
  15. Vgl.  https://jail-guitar-doors.myshopify.com/ (Zugriff: 18. Mai 2023).
  16. De Quadros, A. and Amrein, E., 2022. Empowering Song: Music Education from the Margins. Hrsg.: Taylor & Francis.
  17. Vu, T. K. und De Quadros, A., 2020. My Body Was Left on the Street: Music Education and Displacement. Hrsg.: Brill.
  18. Sogenannte „Abolitionists“ treten ein für das Abschaffen und den Abbau von Logiken und Strukturen, auf denen Gefängnisse beruhen, unter der Grundannahme, dass Gefängnisse keine Probleme lösen.
  19. Vgl. http://mariamekaba.com“ (Zugriff: 18. Mai 2023).
  20. Vgl. https://criticalresistance.org/ (Zugriff: 18. Mai 2023).