Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier widmete sich in seiner Ansprache am 30. August 2018 bei der musikalisch-literarischen Soiree "Ludwig van Beethoven – eine Annäherung" in der Villa Hammerschmidt (Amtssitz Bonn) der sogenannten "Klassikkrise". Er hob ein breites Interesse an der klassischen Musik und die Bedeutung der musikalischen Bildung hevor, und untermauerte sein Plädoyer mit Verweisen auf statistische Daten. Die Ansprache hielt Steinmeier am Vorabend des Beethovenfests in Bonn.

"Ich freue mich, Sie alle heute an diesem Ort begrüßen zu dürfen, der gerade an solchen Sommerabenden besonders schön ist. Ich teile meine Freude über den Bonner Amtssitz des Bundespräsidenten immer wieder gerne mit Gästen und sage deshalb: Herzlich Willkommen hier in der Villa Hammerschmidt!

Zu Anfang eine Frage: Passt das eigentlich noch in unsere Zeit, was wir heute Abend vorhaben? Und passt das eigentlich zur demokratischen Gesellschaft? Viele Freunde der klassischen Musik kommen sich ja selber schon wie eine anachronistische Minderheit vor, die immer kleiner zu werden scheint. Und dazu kommt: Der Besuch klassischer Konzerte wird immer wieder als eine elitäre Angelegenheit dargestellt, als ein Distinktionsmerkmal für Besserverdienende.

Beiden Wahrnehmungen widersprach im Juli vehement ein Bericht in der Zeitung, hinter der immer ein kluger Kopf stecken soll. Er bezeichnet, abgestützt durch Zahlen und Fakten, die sogenannte "Klassikkrise" als "empirieresistentes Gerede".

Da wird beispielsweise die Intendantin des Würzburger Mozartfests mit ihrer Aussage zitiert, sie könnte jeden Platz dreimal verkaufen. Beispiele für erheblich steigende Abonnementzahlen liefern aber nicht nur Festivals; auch feste Ensembles werden genannt. Und eben nicht nur in Berlin, wo man es vielleicht vermutet, sondern auch in der sogenannten Provinz, die in Deutschland ja gerade kulturell oft gar keine ist. Als Beispiele dienen etwa die Bamberger Symphoniker und das Theater Osnabrück.

Und ich bin mir – mit den Verantwortlichen – sicher: Hier in Bonn wird das große Beethovenfest 2020, mit dem profilierten Programm, das Nike Wagner dafür vorbereitet, ähnliche Erfolgsnachrichten bringen.

Was übrigens die – wie wir im Karl-Marx-Jahr ruhig einmal sagen können – Klassenfrage angeht, so zeigen nach Einkommensklassen aufgestellte Statistiken: Das Interesse an Festivals mit klassischer Musik ist einkommensunabhängig. Bei Nettoeinkommen unter 1500 Euro im Monat liege es sogar leicht höher als bei allen, die über 3000 Euro im Monat verfügen. [Anm. d. Red: vgl. Statistik Interesse am Besuch von klassischen Musikfestivals] Ich fand das alles überraschend und erfreulich.

Das soll uns nicht bequem und zufrieden machen. Wir können nie genug für musikalische Bildung tun und nie genug Nachwuchshörer zu begeistern versuchen. Denn eines zeigen die Statistiken auch: die Verbindung von höherer Bildung und Schulabschlüssen und dem ausgeprägten Interesse für klassische Musik – diese Verbindung ist signifikant.

Sie werden nicht damit gerechnet haben, vor einem Konzert mit dieser Art von Zahlen konfrontiert zu werden, aber weil sie eine so positive Überraschung darstellen, wollte ich das einmal tun.

Damit hören die Überraschungen heute aber noch längst nicht auf.

Wenn Sie nämlich auf das Programm des heutigen Abends schauen, der ja zum Vorabend des Beethovenfestes veranstaltet wird, so werden Sie ein Stück von Beethoven vergeblich suchen. Heute wird vielmehr eine Annäherung an Beethoven geboten – und so hören wir Lieder von Komponisten, die in der Nachfolge Beethovens komponiert haben; die in der ein- oder anderen Weise von Beethoven beeinflusst sind, die sich an Beethoven orientieren und messen oder auch bewusst über Beethoven hinausgehen wollen.

Beispielhaft zeigt die Beethovenverehrung jener Zeit der Text von Richard Wagner, den wir begleitend hören. Er erzählt von einer fiktiven Pilgerfahrt nach Wien zu Beethoven – übertrieben, ironisch, mit hintersinniger Lust am Fantasieren – und doch im Kern von der tiefen Verehrung geprägt, die die Nachwelt Beethoven schon bald überreich entgegenbrachte.

Ich will nicht vorweg alles haarklein entschlüsseln, was wir uns mit diesem Programm gedacht haben, das nähme Ihnen ja auch den Spaß am Entdecken beim Hören.

Aber auffallen dürfte, dass hier die fruchtbare Spannung zwischen Deutschem und Französischem eine Rolle spielt. Und natürlich liegt auch Spannung in der Luft, wenn Heine und Wagner zusammenkommen – und wenn wir uns vergegenwärtigen, welche Wege beide noch gegangen sind.

Musik ist keineswegs immer die allesversöhnende universale Sprache der Weltverständigung. Man muss genau hinhören, man muss versuchen, jedes Idiom genau mit zu vollziehen. Dann hört man, wie Musik gleichsam in unterschiedlichen Sprachen spricht. Es kann allerdings auch gelingen, eine, wenn Sie so wollen, versöhnte Verschiedenheit hörbar zu machen. Dann nämlich, wenn man Unterschiede nicht einfach stehen lässt, sondern sie aufeinander bezieht. Das wenigstens ist die Idee dieses Abends – und diese Idee könnte auch unserem Zusammenleben außerhalb dieser vier Wände und über diesen Abend hinaus gut tun.

Es wird, das kann ich versprechen, ein sehr abwechslungsreicher Abend werden – und das ist auf jeden Fall vollkommen im Sinne Beethovens. Denn dieser unübertroffene Großmeister der Variation wusste: Gelungene Abwechslung ist einer der Namen für gute Musik. Und immer wieder die Möglichkeit zur Abwechslung zu haben: Das ist ein anderer Name für Freiheit. Weniges war Beethoven teurer als sie.

Wir konnten großartige Interpreten für diesen Abend gewinnen und schon vor der ersten Note sage ich einen ganz herzlichen Dank für ihre Bereitschaft, dieses Konzert zu gestalten. Es werden singen Fatma Said und Roman Trekel. Am Klavier begleitet sie Daniel Heide. Und Wagners Fantasie von der Pilgerfahrt zu Beethoven liest Markus Meyer.

Uns allen wünsche ich einen wunderbaren Abend."